Restaurantkritik 24.April 2024

Bonjour Tristesse

Am zweiten Tag in Paris besuchen wir mittags das ›Restaurant David Toutain‹. Der namensgebende Patron spielt in der Sternefresser-Historie keine unbedeutende Rolle, denn in seiner ersten Pariser Wirkungsstätte, dem legendären ›Agapé Substance‹, erlebte ich eines der aufregendsten Essen meines Lebens. Das war im November 2011. Zwei Jahre später eröffnete Toutain sein eigenes Pariser Restaurant, wo mich seine Küche allerdings nicht recht überzeugte. Ich beschloss, es dabei zu belassen, um die fantastische Erinnerung an das ›Substance‹ nicht weiter zu trüben.

Gut zehn Jahre später können wir nicht mehr widerstehen. Zu oft war zu lesen, wie großartig Toutains mittlerweile zweifach besternte Küche sei. Jahr für Jahr wird er als heißer Kandidat für »den Dritten« gehandelt.

Guter Dinge erreichen wir also an diesem Spätwintertag die Rue Surcouf. Blauer Himmel, Sonne, Paris und zwei Sterne – was soll da noch schief gehen?
Beim Betreten des Restaurants kommen wir zwischen Tür und Windschutz irgendwie dem Restaurantleiter in die Quere – eine etwas tapsige Situation, die von dem Serviceprofi leider nicht souverän aufgefangen wird. Mit förmlicher Distanziertheit geleitet er uns durch das Lokal, dessen Gastbereich sich nach hinten hin verengt und dann noch für eine kleine Nische um die Ecke geht. Dort sitzen wir. Die Wände sind graugrün gestrichen, das Kunstlicht ist etwas diffus und das einzige Fenster gewährt einen Blick in die Küche. Dort sieht man außer einem etwas traurig wirkenden Chef nicht viel.

Nun denn, unsere sonnige Laune soll das nicht trüben, zumal ein junger, entspannter Sommelier die Bestellung aufnimmt. Zwei Gläser »Krug Grande Cuvée« sind flugs bestellt (52 €), beim Menü soll es für uns die mittlere von drei Optionen sein (248 €).

Das Essen beginnt mit einem Toutain-Klassiker, den ich noch vom Besuch vor zehn Jahren kenne: Frittierte Schwarzwurzel, etwas bemüht zwischen Ästen und trockenem Laub »versteckt«, wird mit einem Dip aus Pastinake und Malzcrumbles serviert. Das schmeckt nicht aufregend, aber angenehm nussig, leicht süßlich und schön knusprig – ein bisschen wie die salzige Version eines Churro.

Auch eine Art »Lolli« aus Lakritze, Hefe und Macadamia kombiniert nussige und süßliche Aromen auf ansprechende Art, ohne größere aromatische Spannung zu erzeugen. »Nett« trifft es wohl am besten.

Als nächstes wird in einer Muschelschale eine Sphäre aus Miesmuschel, Kürbis und Safran serviert. Die glänzende gelbe Kugel schmeckt eigentlich nach keiner der drei Komponenten so richtig, was die Frage aufwirft, weshalb man anstelle dieser unzeitgemäßen Verfremdung nicht einfach eine exzellente Muschel mit etwas Kürbis und Safranwürze inszeniert.

Das nächste Amuse, eine Auster mit Kiwi und Koriander, gefällt auf der anderen Seite des Tisches ganz vorzüglich – bei mir lässt man wegen vorab kommunizierter Unverträglichkeit die Auster ersatzlos weg. Kiwi mit Koriander, nun denn, auch ganz nett.

Ein kleiner, warmer Krapfen mit Rote Bete, Sarawak-Pfeffer und gebeiztem Wittling beendet die Küchengrüße mit einer gefälligen Mischung aus wohlig fettender Knusprigkeit, buttrigem Schmelz und jodigen Aromen. Das macht Spaß und ist zweifelsfrei der beste der fünf Happen.

Der erste Gang des eigentlichen Menüs besteht aus einer fluffigen Brioche-Waffel mit ungesalzener Butter und einem dunkelgrünen Fond aus »süßem Frühlingsgras« zum Ditschen. Sehr gut.
Ebenfalls im Bild: eine knusprige Focaccia mit Kürbiskernen und Lorbeer – das Foto ist ein Vorgriff, denn die Focaccia wird erst später serviert und ist im Menü ebenfalls als eigener Gang ausgewiesen.

Richtig los geht das Menü mit einer Art Salat: schmale Streifen von mariniertem Wirsing sind mit Minze zu einer Rolle geformt – eine Art Millefeuille in Scheibenform, wenn man so will. Am Tisch wird eine Sauce auf Basis von Bernsteinmakrele darauf gelöffelt. Das schmeckt im ersten Moment sehr gut, angenehm frisch, mit saftiger Knackigkeit und durch die sämige Sauce auch süffig und vollmundig. Nach zwei Gabeln beginnt jedoch ein etwas eintöniger Salatcharakter zu dominieren; der Kohl macht die Sache zudem recht schwer. Mit anderen Worten: es schmeckt nett, aber monoton und letztlich zu mächtig. In halber Größe könnte das wesentlich besser funktionieren.

Marginal interessanter fällt eine Variation um Meeresfrüchte aus. In einer größeren Schale ist ein Salat aus geröstetem Rosenkohl, Quitte und Kräuterblättchen auf einer würzigen grünen Creme angerichtet, deren Zusammensetzung wir nicht notiert haben; dazwischen finden sich verschiedene Muschelstücke. Das schmeckt nett und gefällig, ohne in irgendeiner Weise aufregend oder originell zu sein.

Auf einem weiteren Teller sind kleine Stücke roher Garnelenschwänze und kross frittierte Garnelenköpfe auf einem Salatblatt drapiert. Das knuspert – auch durch den saftigen Salat – recht ansprechend und schmeckt dezent nach rohem Krustentier. Auch diese Kleinigkeit ist von geradezu irritierender Harmlosigkeit.

Am besten gefällt der dritte Part des Ensembles, nämlich Stabmuscheln in einem leicht asiatisch anmutenden Zwiebeljus mit kleinen Knusperelementen und Kräuterblättchen. Der Eigengeschmack der Muscheln bleibt zwar auf der Strecke, aber wenigstens besitzt diese Petitesse Kraft und eine gewisse aromatische Tiefe.

Weiter geht es mit einer Scheibe gebackenem Knollensellerie, der mit einer Brotmasse überkrustet ist und in einer schaumigem Kastaniensauce ruht; auf dem Tellerrand finden sich Tupfer einer Kastaniencreme. Hier verhält es sich ähnlich wie beim Spitzkohl mit Makrelensauce, nur in einer »dunkleren« Aromenwelt: es schmeckt gefällig-gut, wirkt aber sehr schnell eintönig und vor allem sehr mächtig. Die grundlegende Süßlichkeit des Gerichts verstärkt diesen Eindruck. Wir lassen die Hälfte der Portion auf dem Teller zurück.

Bis jetzt tut dieses Menü zwar nicht weh, aber allzu viel Freude bereitet es auch nicht.

Der Fischgang: Eine mosaikartige Terrine von roh mariniertem Kabeljau, erneut kreisrund angerichtet, ruht in einer dicklichen Muschelsauce. Die von feinst gehackten Kräutern ummantelten Fischstücke sind von makelloser Güte und schmecken gut; die Sauce wirkt einmal mehr sehr gehaltvoll, ist handwerklich aber einwandfrei, wenngleich der Geschmack etwas diffus bleibt. Auf dem Fisch findet sich eine Artischockencreme von jener artifiziellen Hautcreme-Konsistenz, die Küchenchefs weltweit zu lieben scheinen. In Summe muss man das alles »tadellos« nennen, nur ist es eben weder spannend noch besonders köstlich.

Zur Stimmung im Restaurant können wir nicht viel sagen, da wir von unserem Platz aus nur zwei weitere Tische sehen, an denen Pärchen sich anschweigen. Hinter dem Küchenfenster erspähen wir manchmal fahle Gesichter, denen kein Lächeln über die Lippen kommt. Insgesamt hat die Atmosphäre hier etwas Beklemmendes, was der Service mit seiner auffallenden Reserviertheit unterstreicht. Man gewinnt nicht den Eindruck, dass hier irgend jemand mit Freude am Werk ist.

Und gerade als wir die Hoffnung aufgeben, passiert es: Toutains Interpretation des französischen Klassikers Lièvre à la Royale schmeckt… großartig! In einer Schale verbirgt sich ein hochintensives Wildhasenragout unter einem federleichten, mit Kakao bestäubtem Kartoffelschaum. Dieses Gericht hat alles, was wir uns von Toutains Küche erhofften, es ist kreativ und köstlich, modern und traditionsbewusst, vollmundig und doch ganz leicht. Sehr stark.

Es ist erstaunlich, an sich selbst zu beobachten, wie ein unerwartet tolles Gericht die Lebensgeister beflügeln und reine Freude erzeugen kann. Von einem Löffel zum nächsten sind wir wieder voll da – und voller Erwartung.

Es folgt ein Toutain-Klassiker, den ich schon beim ersten Besuch probieren konnte: auf einer warmen Creme aus schwarzem Sesam sitzen drei Tranchen geräucherter Hering, beträufelt mit süßsaurer Gastrique. Durch den Sesam ergibt sich ein sanft orientalisches Geschmacksbild, bei dem Nussigkeit und jodige Aromen, Süße und Säure sehr schön zusammen kommen. Wie so oft bei Klassikern prominenter Köche wirkt das Gericht vielleicht nicht mehr so bahnbrechend wie früher einmal, doch wir wollen nicht meckern, denn es schmeckt tatsächlich sehr gut.

Das lässt sich vom Hauptgang leider nicht sagen. Ein Tranche rare gegartes Rindfleisch hat keine nennenswerte Bratkruste und eine ziemlich feste Beschaffenheit. Dazu gibt es einen handwerklich soliden, leicht fruchtigen Jus, zu weich gegarte Karotten und eine süßliche Creme aus Karotte und Bitterorange. Nichts auf diesem Teller bereitet Freude. Die Uninspiriertheit dieses Hauptgangs ist geradezu schockierend. Sogar in einem Stadtteilbistro könnte man mit diesem Gericht kaum Punkte sammeln. Am originellsten ist im Kontext des Menüs noch, dass der Teller nicht kreisrund angerichtet wurde.
Wir erachten es als müßig, jetzt noch ein Fass aufzumachen, denn auch für kritische Anmkerkungen muss der Rahmen stimmen, was hier und heute nicht der Fall ist. Den Service interessieren die halbvoll abgeräumten Teller ohnehin nicht.

Wir nähern uns dem willkommenen Ende des Menüs, eingeleitet von einem ansprechendem Käsegericht aus Bleu d'Auvergne-Mousse mit Birnensorbet und knusperndem Quinoa.

David Toutain stammt aus der Normandie, wo man traditionell einen Calvados oder ein Apfelsorbet serviert, Trou Normand genannt. Bei Toutain besteht dieses »Normannische Loch« aus einem exzellenten Sorbet in einem Fond aus fruchtig-herbem Calvados. Ganz hervorragend.

Das auf drei Tellern servierte Hauptdessert hat Zitrone zum Thema. Da sind hauchdünne Röllchen konfierter Zitrusscheiben mit milder Zitronencreme, drumherum ein fruchtig-frischer Zitrusfond. Separat gibt es ein exzellentes Sorbet mit Olivenöl und Zitrus-Crumbles, sowie eine ungemein filigrane Zitrustartelette, die durch marinierte Kräuterblättchen einen feinherben Touch erhält. Diese vielgestaltige Zitronen-Deklination überzeugt in jeder Hinsicht, sie ist fein justiert, handwerklich stark und geschmacklich abwechslungsreich. Ein Highlight.

Zum Abschluss gibt es Tartelettes von roter Maya-Schokolade und, als Bogen zum Menübeginn, süße Churros aus Staudensellerie. Auch diese beiden Kleinigkeiten sind mehr als sehr gut. Die Kreationen der Pâtisserie bilden zweifellos die Lichtblicke dieses tristen Menüs.

Nachdem Chef Toutain seine Runde gemacht hat sehen wir in unserem Eckchen für eine Weile niemanden mehr. Dabei wollen wir möglichst schnell hier weg, raus aus dieser beklemmenden, fast depressiven Atmosphäre. Ein starker Gang, spät im Menü, und die Desserts konnten uns begeistern. Dass wir angesichts des Chefs und der Bewertungen wesentlich mehr erwarteten, ist eine nette Untertreibung. »Nett«, dieser Begriff fasst auch das Menü am wohlwollendsten zusammen. Dafür fällt die Verabschiedung an der Tür ähnlich distanziert aus, wie der Empfang. Draußen strahlt noch immer die Sonne über Paris, wenn auch nicht in dieses Restaurant. Für Trübsal haben wir indes keinen Grund – es wartet noch das Abendessen, ohne Sterne, dafür vielleicht glänzend.

Kai Mihm

Umfrage

Wie geht Ihr mit enttäuschenden Menüs um?

 

Hinweis

Der Besuch erfolgte auf Einladung. Details zum Umgang mit Pressekonditionen findet Ihr hier.

Das könnte dich auch interessieren