Restaurantkritik  1.April 2024

Tres – Kroftvoll

Ein kalter, aber sonniger Winternachmittag in Rotterdam. Ich schlendere die wenigen Kilometer vom Hauptbahnhof zu meiner Unterkunft und stelle fest: Diese Stadt fühlt sich im direkten Vergleich zum Party-Nachbar Amsterdam deutlich entspannter, aufgeschlossener, dank unzähliger Museen und moderner Architektur in gewisser Hinsicht auch kosmopolitischer an. Heute gilt es, die kulinarischen Potenziale kennenzulernen.

Unweit der historischen Künstlerinsel „Noordereiland“ besuche ich das souterrain gelegene „Tres“. Vor etwa fünf Jahren übernahm der junge Chef Michael van der Kroft zusammen mit seiner Lebensgefährtin und Gastgeberin Emy Koster die Kellerräume – und wie so viele, die „in die Pandemie hinein“ eröffneten, musste sich das Gastro-Duo mit so einigen Box- und To-Go-Konzepten über Wasser halten.

Eine Recherche zur Biografie des Chefs fördert Überraschendes zutage: Van der Kroft (Mitte) war eigentlich BMX-Fahrer. Als er merkte, dass es sich damit nur schwerlich Geld verdienen ließ, entschied er sich für eine Karriere in der Küche und übernahm nach etwa zwei Jahren den ersten Chefkoch-Posten im „Tosca“, einem hippen italo-mediterranen Restaurant in Rotterdam.

Danach verließ er die Stadt und arbeitete als Chef de Partie im besternten Restaurant von Thijs Meliefste in Zeeland, bis sich die Option der Selbstständigkeit im Keller des geschichtsträchtigen „Entrepot“ auftat, das im 19. Jahrhundert als modernstes Lagerhaus Europas galt.

Ich schlendere entlang der dunklen Hafenwasserkante und muss etwas suchen, denn lediglich ein dezentes güldenes Schild mitsamt Klingel weist auf das Restaurant hin. Die abgedunkelten Fenster bieten keinen Blick ins Innere; das fühlt sich ganz schön „Berlin“ an.

… von elitärem Hipstertum allerdings keine Spur, als mir ein gutgelaunter Chefkoch die Tür öffnet. Die Hütte ist gefüllt, die Corona-Durststrecke offensichtlich überstanden. Die kulinarische Basis des zwölfgängigen Menüs ist die Arbeit mit saisonalen Produkten von lokalen Produzenten; so weit, so nordisch. Ich bin sehr gespannt, ob sich der Wechsel von „Fahrrad“ zu „Fine Dining“ tatsächlich gelohnt hat.

Eine heiß-süßliche Brühe aus Seegras und Zwiebel (serviert in einer Wellhornschnecke) pariert die neblige Kälte Rotterdams.

Ein Seestern aus gebrannter Milchhaut gefüllt mit geräucherten Rogen gibt schon mal Gas: Initiale Bitterstoffe, im Knusper versteckt, werden abgelöst von leichter Süße und viel Salz. Der Appetit darf als angeregt verstanden werden.

Ein dehydriertes Schwarzes Johannisbeerblatt mit Flusskrebs-Karamell ist intensiv, reduziert und dominiert von Rauch, Bitterstoffen und ein wenig Zucker. Das Blatt selbst ist mir allerdings eine Spur zu klebrig.

Die ersten Happen sind vertilgt, nun geht es eine Treppe hinunter in den Keller. Die offene Küche ist zentraler Blickpunkt des Vorraums, in dem mir Michael van der Kroft im Stil eines „Carte Blanche“-Menüs die heutigen Produkte des Menüs vorstellt. Darunter die berüchtigte „Buddhas Hand“, eine „heilige“ Zitrusfrucht, die mancher Berliner Asia-Koch als Luxuszutat über seine Gerichte hobelte. Umso erstaunlicher, dass dieses exklusive Gewächs unweit des Restaurants – ganz in der Nähe Rotterdams – erfolgreich gezüchtet wird.

Regionalbezug beim klassischen „Oliebol“, dem niederländischen Krapfen, der besonders zum Neujahr vertilgt wird. Gefüllt ist der frittierte Ball mit Forellenkaviar, dazu gibt es eine schwammartige Creme, die mit 'Nduja – einer würzigen, italienischen Wurst – aromatisiert wurde. Saftig, heiß, deftig, bissig … bisher gefällt mir diese bereits vor Menübeginn hart angezogene Intensitätsschraube.

Der saftige, in Tamali gebackene Koji-Kuchen mit im Sauerteig frittierter Auster, Rhabarber-Wurzel sowie Yuzu-Perlen macht dann so richtig Laune: Der kleine Happen beantwortet meinen Papillen alle W-Fragen, ist absolut gekonnt proportioniert und schafft (kurioserweise) Erinnerungen an verboten gute Abende mit saftig frittierten Meeresfrüchten in den US-Südstaaten. Top!

Für das eigentliche Menü werde ich zum rustikalen Holztresen geleitet. Überhaupt ist die Einrichtung spartanisch, aber geschmackvoll – „bewusste Zweckmäßigkeit“ trifft es wohl. Zwölf Menschen passen an den Tresen, und man fühlt sich ein klein wenig wie ein erlesener Zirkel, der irgendwas Verbotenes macht; so muss sich ausschweifender Genuss zu Zeiten der Prohibition angefühlt haben.

Den Anfang macht Sashimi von fünf Tage gealtertem Hamachi, dazu eine dezente, sechs Monate nachgereifte Sojasauce, ein paar dünne Zitronenscheiben und frisch gehobelter Wasabi. Ich probiere eines der hervorragend temperierten, butterweichen Fischstücke isoliert und entscheide mich prompt, die Zitrone gänzlich wegzulassen; zu sehr würde sie mir den reinen Geschmack des Fisches verfälschen. Gleiches auch für den Wasabi, den ich zu keinem Zeitpunkt geschmeckt, aber nicht vermisst habe.

Der Teig der mit Miso, Pickles und Kapern gefüllten Tortellini wird aus Tintenfisch geformt, darüber wird eingangs erwähnte „Buddhas Hand“ gehobelt. Süßlich-sauer, mit erneut dezent bitteren und fischigen Akzenten – bisher eine enorm stimmige Menü-Dramaturgie.

Ein aus Muschelaromen in Teig nachgeformte „Muschel“ sitzt auf einem Relish aus divers eingelegtem Grün, Seegras und weißem Spargel, daneben eine schaumige Veloute aus Topinambur. Eine sehr dichte, erneut verspielt-erdige Kreation mit deutlichen Meerrettich-Aromen, bei der leidglich eines etwas untergeht: das Muschelaroma.

Bereits jetzt als „Klassiker“ des jungen Hauses ist die Birne mit Kombu zu verstehen. Das Kernobstgewächs wird zwei Tage in Brühe gekocht, dann dehydriert, im Anschluss mit einer Bohnen-Miso bestrichen, wieder dehydriert und schlussendlich mit schwarzem Pfeffer und geräuchertem Buchweizen serviert. Der Aufwand lohnt sich: Optisch durchaus anzüglich, erfreue ich mich diebisch an der überragenden aromatischen Dichte, am Zucker, am Salz, am Knusper und an der Cremigkeit. Die Sauce aus Tomaten und Paprika macht aus dem Gericht, das man woanders problemlos als Dessert servieren könnte, erst etwas Herzhaftes, ergänzt um Säure und Frische. Bravo.

Der Kaisergranat – in beachtlicher Größe – stammt aus der Nordsee und wurde mit einer Reduktion aus Blaubeere und Birkenaromen lackiert, dazu lediglich eine Emulsion aus jungem Ingwer; außerdem das einzige Gericht, in dem die Küche handelsübliches (lokales) Salz nutzt, alle anderen Teller nutzen die produkteigenen Salze. Ein reduzierter, im Gegensatz zu den vorherigen Gerichten unverspielter Gang: Das enorm dichte, unerwartet heiße Krebsfleisch ist von herausragender Qualität. Die intensive Ingwer-Emulsion probiere ich lediglich zu Anfang, um meine Papillen zu reinigen – die Creme selbst schmeckt gut, würde mich aber zu sehr vom Hauptprodukt ablenken.

Der Hauptgang bleibt produktfokussiert – und im weitesten Sinne klassisch: Zum gebratenen Steinbutt wird lediglich eine Kiefer- und Stachelbeersauce angegossen, als „Beilage“ gesellt sich ein mit Meeresalgen aromatisiertes Blätterteig-Brioche dazu. Der Butt ist bekannt für sein festes, glasklares Fleisch, das nussige Aroma wird lediglich komplimentiert durch den leicht säuerlichen, einer Nage ähnlichen, dezent cremig abgebundenen Sud. So simpel, so gut – und der bisherige Teller-Star des Abends.

Zurück ins Kreativ-Labor beim „Oktopus“ mit Tahini. Ähnlich wie bei der Muschel ist nichts, wie es scheint – oder zumindest fast, denn hier handelt es sich um Buttermilch-Eiscreme-Dessert in Form eines Tentakelarms. Grund für die Optik ist die Hinzugabe von Oktopus-Garum, das wirklich nur dezent wahrnehmbar ist. Karamell und Johannisbeeren-Tahini bringen dann noch etwas Salz und Erdigkeit. Gut.

Beim zweiten Dessert, „Hummerschwanz“ mit Kaviar, war dann die Idee vielleicht doch etwas zu gewagt: Der Filoteig ist gefüllt mit Cranberry-Mousse, Hummer-Karamell, Lime-Gel und Holländischem Kaviar. Richtig darauf einlassen kann ich mich allerdings nicht, denn der Teig ist enorm hart, brüchig und „kauig“, so dass mich die im Mundraum undifferenzierbare, wilde Melange aus allen Protagonisten eher verwirrt zurücklasst.

Den ganzen Abend beobachtete ich bereits mit ausgeprägter „Zum Glück muss das jemand anderes machen, als ich“-Süffisanz unterschiedliche Köche beim Bestücken der Petits fours, vorrangig den Sanddorn mit etwa 40 bis 50 Kürbiskernen, die händisch (!) auf jedes einzelne Teigförmchen platziert werden müssen. Mit einem Happs ist der schmackhaft-knusprige Geselle schon verschwunden. Weiter hinten, in der Unschärfe: ein Nori-Millefeuille mit Honig sowie (nicht im Bild) Buttermilch-Pralinen mit Flusskrebs-Garum.

Ich nehme noch einen Schluck vom Hochprozentigen und gehe in Gedanken das Menü durch. Michael van der Kroft nimmt kein kulinarisches Blatt vor den Mund und steckt augen- und gaumenscheinlich in einer seit Jahren anhaltenden, enorm vielfältigen Probierphase. Ob nun Tortellini aus Tintenfischhaut, aus Muscheln nachgebaute Muscheln, Seestern-Milchhäute oder Oktopus und Hummer im Dessert: Grenzen scheint der junge Niederländer nicht zu kennen – und als er mich im Anschluss durch sein anliegendes Labor führt, wird mir auch klar, warum: Von Destillationsgerät, Dry-Ager, Garum-Schrank bis 3D-Drucker gibt’s hier alles, was das „Breaking Bad“-Herz begehrt.

Es ist klar, dass bei dieser manchmal kindlich wirkenden Verspieltheit nicht alles funktionieren kann. Dass dabei allerdings nur ein wirklicher Totalausfall dabei war – der vor allem auf die Beschaffenheit des Teigs im zweiten Dessert zurückzuführen ist –, ist erstaunlich. Und doch, aller Originalität zum Trotz: Eher abgeholt haben mich an diesem Abend Gerichte wie der herausragende Steinbutt, das Hamachi-Sashimi oder die frivole Birne – also jene Teller-Momente, in denen Michael van der Kroft (2.v.l.) es versteht, hervorragende Produkte für sich strahlen zu lassen.

Ich jedenfalls bin erstaunt, dass der Rote Guide diesem lässig-unorthodoxen Großod nicht bereits höhere Weihen als eine bloße Erwähnung zugestanden hat, passiert hier doch etwas gänzlich anderes als „Copy & Paste“-Küche; aber was nicht ist, das wird hoffentlich noch kommen. Es wäre „Tres“ bien!

Chris Lippert

Wein

Die Pairings des Abends

Hinweis

Der Besuch erfolgte auf Einladung. Details zum Umgang mit Pressekonditionen findet Ihr hier.

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