Restaurantkritik 28.Februar 2024

Table, Bruno Verjus – das ist Paris!

In Paris steht man immer vor der Wahl, entweder bewährt grandiose Restaurants zu besuchen, oder eine der vielversprechenden Neueröffnungen auszuprobieren, die es hier gefühlt wöchentlich gibt. Die dritte Möglichkeit besteht in Restaurants, die es schon länger gibt, die jedoch immer ein wenig unter dem Radar agierten. So wie das ›Table - Bruno Verjus‹, wo wir am heutigen Mittag reserviert haben. Es existiert seit 2013, galt schon immer irgendwie als lohnendes Ziel, gelangte aber erst vor drei, vier Jahren zu größerer internationaler Bekanntheit. Im Jahr 2022 wurde es mit zwei Michelin-Sternen ausgezeichnet.

Dieser späte Ruhm mag auch mit dem für Frankreich ungewöhnlichen Hintergrund des Patrons zusammenhängen: Bruno Verjus arbeitete ursprünglich als Gastronomiekritiker und eröffnete erst mit 54 Jahren sein eigenes Restaurant. Er erlernte das Kochen als Autodidakt, was ihn in der tendenziell konservativen französischen Gastroszene zu einem Exot machte. Mit dem zweiten Stern war er bei den französischen Kollegen »arriviert«, in den einschlägigen Bestenlisten mischte er schon vorher mit. Für uns jedenfalls klang das alles spannend genug für einen Besuch.

Von außen wirkt das im 12. Arrondissement gelegene ›Table‹ wie ein gepflegtes Stadtteilbistro…

… Drinnen herrscht Leben: es ist voll, eng und quirlig. Der offene Küchenbereich erstreckt sich über eine Längsseite des Raums und wird durch einen Edelstahlstresen vom Gastbereich getrennt – wobei »getrennt« der falsche Begriff ist, denn es geht im ›Table‹ auch um unaufdringliche Interaktion und lässige Geselligkeit. Neben den Tresenplätzen ergänzen zwei, drei Tische des Angebot an Sitzmöglichkeiten.

Der Patron mit dunkelgrünem Hemd und grauer Künstlermähne begrüßt die Gäste mit herzlicher Geste. Ein gut gelaunter Kellner leitet uns zu unseren Tresenplätzen, die Sommelière bahnt sich mit der Champagnerflasche einen Weg durch das sympathische Gewusel. Wir sind erst fünf Minuten hier, doch schon jetzt fühlt sich alles ein völlig anders an, als man es aus Pariser Zwei-Sterne-Häusern gewohnt ist. Allein der Menüpreis liegt mit 400 Euro durchaus auf Linie, eher sogar eine Michelin-Stufe höher. Nun denn.

Bevor es losgeht, präsentiert man eine prachtvolle Königskrabbe, die frisch angeliefert wurde und an diesem Mittag zur Verarbeitung kommt. Notabene: Anders, als zum Beispiel mancherorts in Japan üblich, lebt das Tier nicht mehr, denn Verjus gilt zwar als kompromissloser Produktfanatiker, weiss offensichtlich aber um die Sinnlosigkeit derartiger Machtdemonstrationen.

Zum Auftakt wird eine Assemblage verschiender Gemüse serviert, allesamt ideal gegart und besonders aromatisch, zum Beispiel Möhre, Gelbe Bete, Fenchel und Brokkoli. Eine Gemüsevinaigrette und Sellerieblattöl spenden Würze, Bottarga verfeinert das Ganze. Die scheinbare Schlichtheit dieser Zusammenstellung wird bereits durch die ansprechenden Farben und Formen konterkariert. Der Geschmack jeder einzelnen Komponente ist von betörender Brillanz und Klarheit, sei es erdige Würze, hintergründige Süße, Fruchtigkeit oder anregende Säure. Das erinnert an die Küche von Alain Passard.

Es geht weiter. In einer Austernschale (da diese Kleinigkeit normalerweise mit Auster serviert wird) sind Atlantik-Herzmuscheln von staunenswerter Größe und herausragender Güte mit einer Kresse-Kapern-Emulsion angerichtet – eine fantastische Produktinszenierung. Daneben finden sich in einer funkelnden Silberschale frisch ausgelöster Seeigel, seidiges Tarama und ein warmer Krapfen aus Kalbshirn, außen kross und innen zartschmelzend. Diese hochfeine Berg-und-Meer-Zusammenstellung ist nicht zuletzt ein formidables Spiel mit zarten Texturen. Weltklasse. Oder präziser: eine Götterspeise.

Unterdessen werden direkt vor uns einige Teller angerichtet, unaufgeregt und mit größter Sorgfalt. Man kann so etwas schon hundert Mal beobachtet haben, trotzdem ist es immer wieder eine Freude.

Es gibt eine Mischung aus Bittersalaten, zum Beispiel Treviso und Chicoree, die in Zitrusfrucht-Vinaigrette leicht angeschwenkt wurden. Der Effekt ist ähnlich, wie zu Beginn beim Gemüse, die Begeisterung nährt sich aus der schieren Güte der erstaunlich kräftigen Salatblätter und der präzise abgeschmeckten Würze. Eine samtige Sabayon aus Olivenöl, Wermut und Blutorangen verleiht dem Ganzen Volumen und Delicatesse. Man darf solch meisterhafte Simplizität nicht mit Schlichtheit verwechseln. Dieser Salat wird uns lange in Erinnerung bleiben.

Es folgt der erste Gang mit Königskrabbe: Ein Salat aus dem gezupften Fleisch wird vor dem Servieren mit einer aufgeschäumten Reisemulsion bedeckt – »flüssiges Sushi« nennt sich das auf der Menükarte. Für zwei, drei Gabeln ist das reizvoll, dann beginnt die schaumige Reisstärke den Gaumen zu verkleben und lässt das Gericht mächtig und schwer wirken. Die Krabbe geht in der Unmenge an Schaum in jeder Hinsicht unter. Bestmöglich fischen wir den hervorragend schmeckenden Salat heraus. Mit einem Fünftel der Emulsion wäre das ein großartiges Gericht.

Glücklicherweise zieht das Niveau sofort wieder an. Eine prächtige Schwertmuschel exzellenter Qualität wird mit gebratener, süßlich-nussiger Schwarzwurzel und leicht oxidativer Soloton-Sauce angerichtet, »on top« gibt es noch einige Trüffel-Julienne von überwältigender Intensität. Das schmeckt in seiner klassischen Zusammenstellung so phänomenal gut und wirkt dabei so unerhört lässig komponiert, beinahe improvisiert, dass wir erneut an Alain Passard denken müssen.

Zum nächsten Gang mit dem Titel Hummer »mi-cru-mi-cuit« (halb-roh-halb-gegart) gibt es vom Service eine kurze Erläuterung: Der Hummer (von der Île d'Yeu) wurde bei exakt 40°C in Butter pochiert, welche man zuvor mit gerösteten Hummerschalen kräftig aromatisiert hat. Dies soll dem Hummerfleisch zusätzlichen Geschmack verleihen und dem Gaumen den Eindruck einer »Garung« vermitteln. Die Ausführung ist perfekt, der Effekt verblüffend. Der Hummer zergeht am Gaumen, jedoch ohne das glibberig-weiche Mundgefühl eines rohen Krustentiers – »mi-cru-mi-cuit», genau wie beschrieben. Dazu gibt es lediglich etwas Knollensellerie und eine Brennnessel-Kapern-Remoulade, als Kontrapunkt zum buttrigen Hummer. Exzellent.

Noch besser gefällt eine handgetauchte Jakobsmuschel aus Dieppe. Sie wurde einseitig gegrillt, was zu einem reizvollen Verlauf von gegart zu roh führt; zugleich hat man die Oberseite mit einem »Lack« aus den Muschelbärten überglänzt. Das saftige Teil ruht auf einem Bett aus Wirsing, dazu eine luftige Beurre-blanc, in der sich krosse Speckstückchen verbergen; kleine Stücke goldener Kiwi setzen überraschende Süßsauer-Akzente. Fantastisch.

Es folgt eine Intermezzo in Gestalt einer Kumquat-Karotten-Mousseline mit Safran, dazu eine Wildkräutersauce. Die Mousseline erinnert irgendwie an Babynahrung, ist ziemlich gehaltvoll und wird von den Kräutern nicht wirklich aufgefrischt. Zudem wirkt sie, wie bei Gemüsecremes oft der Fall, sehr schnell sättigend. Nach zwei, drei kleinen Löffeln ist Schluss.

Der zweite Teil der Königskrabbe: Das gegarte, zarte, saftige Fleisch ist lediglich mit etwas Tonkabohnen-Nussbutter aromatisiert; zum Schluss werden noch ein paar schwarze Trüffelspähne darauf gegeben. Im wahrsten Wortsinne der pure Hochgenuss. Etwas Kressewasser steuert belebende Frische bei. Stark, sehr stark. Man kann über solch souveräne Reduziertheit nur staunen – und sich fragen, wer in Deutschland das wagen würde.

Etwas üppiger wird es beim Fischgang. Auf der Haut gebratene Filets von Meerbarbe und Petermännchen sitzen in einem Spiegel aus Rotweinsauce »grand bonheur«, einer Variante der »Sauce Grand Veneur«, zubereitet mit Fischkarkassen anstelle von Wildknochen – der seidige Glanz lässt die kraftvolle Tiefe dieses Elixiers erahnen. Ein besonders fleischige, ausgelöste Venusmuschel und, erneut, einige Trüffelspähne runden die zutiefst vollmundige Komposition ab. Eine separat servierte »Beilage« aus verschiedenen Beten wirkt da regelrecht überflüssig.

Längst ist jeder Platz im Restaurant besetzt, der Geräuschpegel entsprechend. Es wird gelacht und getrunken, Stammgäste begrüßen sich, andere, wie wir, beobachten das lebhafte Treiben. Ständig werden irgendwo Teller, Gläser und Flaschen angereicht. Ein Schlaraffenland. Wir lieben es.

Den ganzen Mittag über konnten wir beobachten, wie auf dem Herd mehrere Bresse-Hühner langsam zu goldbrauner Köstlichkeit gebraten werden. Nun kommen sie auf den Teller…

… Brust und Keule von der Poularde Grise, appetitlich gebräunt und glänzend, zart und kraftvoll, das Keulenfleisch naturgemäß saftiger, als die Brust. Ein Trüffel-Sellerie-Millefeuille und eine Creme von Sonnenblumenwurzel mit Bittersalat bilden die recht klassische Beilage – wir hatten inzwischen auch genug Trüffel für heute (ich werde nie verstehen, wie man ein ganzes Trüffelmenü ordern kann).
Alles andere als klassisch ist die Sauce, ein dick eingekochter Krustentierjus, intensiv bis zum Anschlag, doch bei umsichtiger Dosierung ein Katalysator für den Eigengeschmack des Huhns. Berg und Meer, fabelhaft zusammengebracht. (Auch hier gibt es einen unnötigen Extrateller, an dessen Inhalt wir uns beim besten Willen nicht erinnern können)

Dass es angesichts der räumlichen Gegebenheiten keinen Käsewagen gibt, ist nachvollziehbar. Dafür präsentiert man auf einem lyrischen Tellerbild eine kleine Käseauswahl der Affineure Bernard Antony und Hervé Mons; dazu braucht es nicht mehr, als etwas grünen Salat. Groß, ganz groß.

Das Pré-Dessert besteht aus einer Nocke Tahiti-Vanilleeis, das zu den besten gehört, die ich je gegessen habe – sahnig, cremig, gehaltvoll und ultraintensiv nach edler Vanille. Offenbar bekommt der Service mein Schwärmen mit, denn ungefragt steht plötzlich eine zweite Portion vor mir.

Beim Hauptdessert handelt es sich um einen Klassiker von Bruno Verjus, der einem regelmäßig auf Instagram begegnet: Eine Schokotarte mit Ossietra-Kaviar. In der Ganache aus peruanischer Schokolade sind italienische Kapern aus Linoa verarbeitet, eine Hommage an Claudio Corallo und Jacques Genin. Allerdings schmeckt man die Kapern kaum heraus, eine gewisse Säuerlichkeit könnte ebenso von der Schokolade herrühren. Auch der Kaviar kommt zwischen der etwas (zu) festen Ganache und dem Teigboden kaum zur Geltung. Das hatten wir uns wesentlich spektakulärer vorgestellt.

Umso besser schmeckt eine filigrane Zitrus-Tartelette, deren cremige Füllung aus zwölf verschiedenen Zitrusfrüchten hergestellt wurde. Ohne Umschweife grandios.

Eine Madeleine mit Kalamata-Oliven (nicht im Bild) lassen wir uns zum Mitnehmen einpacken. Sogar zwei Tage später schmeckt sie immer noch ganz exzellent.

Seit Jahren haben wir in Paris kein so aufregendes gastronomisches Erlebnis gehabt. Kulinarisch begeisternde Besuche gab es jede Menge, keine Frage. Doch das ›Table‹ ist mehr, als ein starkes Menü. Es strahlt ein Lebensgefühl aus, eine leidenschaftliche Genussatmosphäre, die ein herkömmliches »Grand Restaurant« kaum je erreichen kann, auch wenn die Teller dort »perfekter« sein mögen, die Menüdramaturgie ausgefeilter (ein Überhang an Meeresfrüchten war heute recht deutlich).

Alles geschenkt, denn die Küche von Bruno Verjus lebt von der Ungezwungenheit, der gefühlten Spontanität, der üppigen Köstlichkeit und den Ideen, die manchmal übers Ziel hinausschießen mögen, dafür aber eine Seele haben. Das ›Table‹ strahlt den Charme eines modernen Bistros aus, in dem auf unprätentiöse Weise groß gekocht wird – die luxuriöse Version von Bistromonie, wenn man so will. Das ist Paris.

Kai Mihm

Wein

Fragen an die Suffmeisterin (aka Sommelière) Agnese Morandi

1. Anzahl der Positionen
Fast 1.000 Referenzen

2. Haben Sie einen besonderen Fokus bezüglich der Weinkarte?
Im Moment konzentriere ich mich auf die Loire und Savoie, um unsere Auswahl zu vergrößern.
Ich liebe Weine, die ein reines, helles Profil mit einer schönen Säure haben.

3. Die preiswerteste/teuerste Flasche?
Der günstigste Wein ist ein Riesling aus dem Elsass, der 59 € kostet. Der teuerste Wein ist sicherlich eine der Cuvées der Domaine de la Romanee Conti, wo man über 5.000 € erreichen kann.

4. Die ungewöhnlichste Rarität?
Ein Vin jaune von Pierre Overnoy aus dem Jahr 1988.

5. Welches ist Ihr meistverkaufter Wein der letzten 12 Monate?
Mit Sicherheit Puligny Montrachet 1er Cru, Comtesse de Cherisey 2018.

6. Ihre Entdeckung der letzten 12 Monate?
Meursault Kuheiji, der in Burgund von einem japanischen Winzer vinifiziert wurde. Die Textur ist völlig anders als sonst, aber alle Merkmale der Appellation sind noch vorhanden!

7. Ihr persönlicher Lieblingswein?
Auf jeden Fall Champagner. Ich denke, dass man Champagner vom Anfang bis zum Ende der Mahlzeit trinken kann, indem man mit den verschiedenen Stilen spielt.

8. Der ausgefallenste (vinophile) Gästewunsch, mit dem Sie konfrontiert wurden?
Eines Tages sagte mir ein Gast, er wolle einen Wein, der wie Essig schmeckt. Ich muss sagen, dass ich ein wenig überrascht war...

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