Restaurantkritik 14.Februar 2024

Marsan – Sternschnuppen

Im Jahr 2021 wurde der französischen Köchin Hélène Darroze eine seltene Ehre zuteil: ihr Londoner Restaurant ›Hélène Darroze at The Connaught‹ erhielt den dritten Michelin-Stern, nachdem kurz zuvor ihr Pariser Restaurant ›Marsan‹ mit dem zweiten Stern ausgezeichnet wurde. Ein solcher Doppelschlag war zuvor nur Enrico Bartolini in Italien gelungen.

Bemerkenswert ist daran auch, dass die höchste Michelin-Ehrung gewissermaßen an Darrozes »Zweitrestaurant« ging (was vollkommen wertungsfrei gemeint ist). Denn das ursprüngliche Stammhaus der einstigen Ducasse-Mitarbeiterin ist jenes in Paris. Und genau dort gehen wir heute zum Auftakt unserer Paris-Reise hin. Das Restaurant eröffnete vor 25 Jahren, wurde vor genau fünf Jahren komplett saniert und unter dem neuen Namen ›Marsan‹ wiedereröffnet. Und wenn es stimmt, dass der Michelin in Frankreich etwas strenger bewertet als in England, ist der Niveau-Unterschied zwischen Paris und London womöglich gar nicht so groß.

Das ›Marsan‹ ist nach Darrozes kleinem Heimatort in Landes benannt, einer Region nahe der baskischen Grenze. Es findet sich »rive gauche«, im pariserisch-schicken 6. Arrondissement, wo man beim Spaziergang zum Abendessen an kleinen Boutiquen vorbeikommt, deren unscheinbare Fassade darüber hinwegtäuscht, dass schon ein simples T-Shirt vierhundert Euro kostet.

In einer gepflegten Seitenstraße erreichen wir das ›Marsan‹, das sich über zwei Etagen eines Altbaus erstreckt. Im Erdgeschoss befinden sich Empfang, Garderobe und ein halboffener Raum mit großem Gemeinschaftstisch. Ein bemerkenswert herzlicher Servicemitarbeiter führt uns hinauf ins Obergeschoss, vorbei an der offenen Küche, die durch eine beidseitig offene Wand vom Gastbereich abgegrenzt ist. Interieur und Atmosphäre sind von jener beige-braunen Gourmetrestaurantgedienheit, die einem von New York bis Nenning begegnet. Der Service trägt Anzug und Krawatte, gibt sich aber sympathisch entspannt. Das Publikum besteht an diesem Abend aus einer Mischung aus jüngeren Paaren und älteren Paradiesvögeln (wir sind während der Modewoche da). Alles recht angenehm.

Zur Wahl steht ein Menü in sechs oder neun Gängen das mit 250 bzw. 195 Euro für Pariser Zwei-Sterne-Verhältnisse moderat kalkuliert ist. Für uns soll es die etwas kürzere Variante sein, bei einem Gang mit unterschiedlichen Gerichten.

Parallel zum kühlen Aperitif-Champagner wird eine heiße Pilz-Essenz serviert – wobei das mit dem »heiß« eher die Theorie beschreibt, denn in der Praxis erweist sich das am Tisch eingeschenkte Süppchen als kaum lauwarm. Der tiefe Pilzgeschmack ist zwar sehr präsent, das hervorragende Handwerk deutlich schmeckbar, doch mit Hitze wäre der intendierte Wohlfühleffekt zweifellos größer.

Es geht mit etwas Tableside-Action weiter. Der Service platziert auf dem Handrücken des Gastes eine Art Sphäre aus Kartoffel, auf die wiederum ein Löffel Kaviar platziert wird – eine wohlschmeckende Variante des bewährten Zweiklangs aus cremiger Kartoffel und nussig-jodigem Kaviar. Sehr schön.

Das finale Amuse besteht als einem Talao, der baskischen Variante einer traditionellen Maistortilla. Das weiche Gebäck wurde vor dem Servieren gerillt und ist mit einigen Scheiben roher Makrele belegt, am Tisch gibt der Service noch etwas frisch geschnittenen Thymian darauf. Man isst das ganze naturgemäß mit den Fingern. Es schmeckt weich und süffig, nach herzhaften Röstaromen und sanfter Meeresbrise. Auch dank der exzellenten Fischqualität funktioniert diese Simplizität ganz wunderbar.

Der erste Menügang kombiniert ein Tatar von Jakobsmuscheln aus Erquy mit galizischem Seeigel und Butternusskürbis. Letzter findet sich in Form dünner, marinierter Streifen und als Confit auf dem Teller. Das Spiel mit Meeresaromen und herzhafter Süße funktioniert ausgezeichnet. Die nussige Jodigkeit der Muschel und der elegante Schmelz des Seeigels docken unmittelbar an das süßlich-erdige Confit an. Die bissfesten Kürbisstreifen steuern Textur bei, während eine Vinaigrette aus Ponzu und Limette Umami und Säure einbringt. Auch hier überzeugt die Küche mit starken Produkten, souveräner Schlichtheit und unaufgeregtem Wohlgeschmack.

Außerordentlich stark wird es beim nächsten Gang mit dem Titel »Der schwarze Reis«: Ein mit Tintenfischtinte gefärbtes, meisterhaft auf den Punkt gegartes Risotto ist mit kleinen Stücken von gebratenem Tintenfisch und Chorizo angerichtet. Das hat Biss, Kraft und Hitze, schmeckt seelenwärmend und vollmundig, rustikal und zugleich hochelegant. Bedeckt ist die Risotto-Köstlichkeit mit Petersilienpüree und Parmesancreme, für noch mehr süffige Würze und Umami; irgendwo kommt als Gegenpol leichte Zitrusfrische her. Ein umwerfend gutes Gericht, bei dem ich mich im Nachgang frage, weshalb wir nicht direkt eine Götterspeise ausgerufen haben.

Parallel dazu stehen Champignons de Paris auf dem Tisch. Sie werden als hauchdünne, rohe Scheiben und als Creme serviert, zusammen mit marinierter Foie gras aus Landes, Walnüssen aus dem Perigord und einer fruchtig-herben Vin-Jaune-Emulsion. Diese Komposition ist kaum weniger begeisternd als der Reis. Wenn man im bisherigen Menü nach einem roten Faden sucht, dann ist es die meisterhafte Balancierung von Erdigkeit und Frische, von natürlicher Süße (hier: von der Leber) und üppigem Umami (Pilze, Nüsse). Nichts wirkt plakativ, alles bleibt leicht und durchscheinend: die hauchzarten Pilzscheiben schmelzen am Gaumen, die leicht oxidative Note des Vin Jaune lockert die Foie gras auf. Alles zusammen ist ein Hochgenuss wie aus einem Guss. Sehr stark.

Der folgende Gang wird als »unverzichtbarer« Klassiker von Hélène Darroze annonciert: Blauer Hummer, pochiert in Tandoori-Butter, mit Karotten-Zitrusmousseline und Lampong-Pfeffer-Reduktion. Der Hummer ist von zweifellos exzellenter Produktqualität, makellos gegart und hat durch das Pochieren in Gewürzbutter eine deutliche Tandoori-Note. Auch die kräftige, mit frischem Koriander angereicherte Sauce hat ihren Reiz. Nur verschwimmen die Aromen hier auf Dauer zu einer »exotischen« Melange, der die Leichtigkeit und die differenzierte Eleganz der vorherigen Gerichte fehlt. Als »Klassiker« mag dieser Gang von Interesse sein, wirklich zeitgemäß wirkt er nicht mehr.

Die Stimmung im nunmehr voll besetzten Restaurant ist inzwischen erheblich gelöster, als noch zu Beginn des Abends, was sich nicht unwesentlich dem außergewöhnlich guten Service verdankt, der eine Balance zwischen verbindlicher Herzlichkeit und professioneller Distanz hält.

Der Hauptgang. Gegrillte Taube aus Landes, eines unserer Lieblingsprodukte, wird im Menü als »sehr blutig« gegart annonciert – kommt dann aber nahezu durchgebraten auf den Teller. Qualitativ hochwertiges Taubenfleisch wird davon zwar nicht trocken, aber geschmacklich dumpf und fad. Die Beilage aus verschiedenen Beten und Kumquats frischt das Ganze leidlich auf. Sehr gut sind die separat servierten, zarten Keulen in einer krossen »Panade« aus gepufftem Quinoa. Das Highlight dieses Gerichts bildet allerdings ein kräftiger, präzise reduzierter Taubenjus mit Mole Poblano und, mehr noch, eine sehr fein gearbeitete und delikat abgeschmeckte Innereien-Tartelette. Alles in allem bleibt der Gang dennoch ein bemerkenswerter Ausrutscher.

Im Käsegang wird gereifter Ardi Gasna, ein Schafskäse aus den baskischen Pyrenäen, über hauchdünn-knusperndes Fladenbrot mit einem Klecks schwarzer Kirschkonfitüre gerieben. Das schmeckt gut und angenehm leicht – man hat das geschmackliche Gefühl eines Käsegangs, ohne die oftmals damit einhergehende Mächtigkeit. Für ein Restaurant dieser Kategorie bleibt das als »Gericht« trotzdem etwas zu schlicht, als »Produktschau« wiederum ist es nicht konzentriert genug.

Das erste Dessert kombiniert Satsuma und Salbei. Im Mittelpunkt steht eine Salbei-Crème brulée, sehr zart, sehr aromatisch, ohne »parfümiert« nach Salbei zu schmecken. Dazu gibt es frische Satsuma-Filets, ein gutes, recht säuerliches Satsuma-Sorbet und eine Sauce aus Satsuma und Salbei. Confierte Scheiben von Buddhas Hand-Zitrone unterstreichen den säuerlichen Charakter dieses Desserts, der von der sanften »Wärme« des Salbei aufgefangen wird.

Nun folgt ein »Signature Dessert« von Hélène Darroze, das vermutlich ihrer Prägung bei Alain Ducasse entstammt: ein Baba, aber nicht »au Rhum«, sondern »au Armagnac«. Hier zeigt sich plötzlich, dass man sich im ›Marsan‹ offenbar über die Gäste informiert, denn der Service überrascht mit Armagnac-Flaschen unserer Geburtsjahrgänge – was zu der amüsanten Situation führt, dass einer von uns aufgrund schief gelaufener Detektivarbeit 13 Jahre älter gemacht wird. Nach einer belustigten Korrektur besorgt man eilig den korrekten Jahrgang. Wobei es eigentlich schade um das edle Getränk ist, denn auf dem Baba machen solche Feinheiten keinen Unterschied.

Der Baba selbst ist sehr gut, kann mit der Referenz von Alain »Baba« Ducasse allerdings nicht ganz mithalten – wer kann das schon? Ganz ausgezeichnet gefallen die Beigaben, nämlich exzellentes Sorbet und Marmelade vom Boskoop-Apfel, konfierte Kastanien und eine herrliche Chantilly von gebratene Kastanien.

Hervorragend auch die Petits fours, darunter ein kleiner, angenehm zwischen Süße und Würze changierender Käsekuchen sowie leicht knuspernde Schokopralinen (nicht im Bild), die ein wenig an luxuriöse »Schoko Crossies« erinnern. Stark.

Das war gut, sehr gut sogar. Ein etwas verhaltenes Fazit, das sich vor allem in den beiden schwachen Hauptgängen begründet. Immerhin, die besten Gerichte des Menüs schmeckten gleich so exzellent, dass wir, nun ja, Sterne sahen – Sternschnuppen, wenn man so will, in besonders hell. Das Kapitel Hélène Darroze werden wir jedenfalls noch nicht abschließen. Produkte, Handwerk, Feinabstimmung – das alles war in den besten Momenten vollkommen auf den Punkt. Mit den diversen Bezügen zu Herkunftsregion und Prägung der Chefin findet sich im Menü auch so etwas wie eine kulinarische »Idee«. In London gäbe es dafür wahrscheinlich drei Sterne. Wir werden es sehen, für den Frühsommer steht die Stadt auf dem Programm. Jetzt aber erst mal weiter in Paris, der Stadt unseres Herzens. Das ›Marsan‹ war sicher kein perfekter Auftakt, aber ein schöner.

Kai Mihm

Wein

Fragen an den Suffmeister (aka Sommelier) Alberto Bonanno

1. Anzahl der Positionen
1.200

2. Haben Sie einen besonderen Fokus bezüglich der Weinkarte?
Unsere Liste besteht zu 60% aus französischen Weinen, zu 30% aus italienischen Weinen und zu 10% aus Weinen der Neuen Welt.

3. Die preiswerteste/teuerste Flasche?
Der günstigste Wein ist ein Weißwein aus dem Languedoc (65€) und der teuerste ist ein Romanée Conti Corton Charlemagne (15.000€).

4. Die ungewöhnlichste Rarität?
Schwer zu entscheiden, wahrscheinlich ein Single Harvest Vintage Port 1940, aber in Anbetracht der Anzahl der produzierten Flaschen und der Schwierigkeit, ihn zu bekommen, kann ich auch einen Marc de Bourgogne 2002 vom Weingut Romanée Conti nennen.

5. Welches ist Ihr meistverkaufter Wein der letzten 12 Monate?
Generell Burgund.

6. Ihre Entdeckung der letzten 12 Monate?
Die Weine der Domaine des Quatres Piliers, wir sind hier in der Touraine, im Loire-Tal – Valentin Desloge, der früher für das Weingut Coche Dury gearbeitet hat, zaubert Sauvignon und Cab Franc.

7. Ihr aktueller Lieblingswein?
Wahrscheinlich der Barolo Riserva 10 Anni Pira 1996 vom Weingut Luca Roagna. Sicherlich, weil es ein Wein ist, der aus meiner Heimatregion, dem Piemont, stammt. Einer der Erzeuger, die an der Geschichte des italienischen Weins mitgeschrieben haben, dessen Ursprung ausschließlich in den historischen Gebieten von Barbaresco und Barolo liegt, weshalb auf dem Etikett die Bezeichnung "Riserva" steht. Nur 1974 Flaschen wurden produziert. Er wird nur hergestellt, wenn der Wein aus sehr alten Weinbergen stammt.

8. Der ausgefallenste (vinophile) Gästewunsch, mit dem Sie konfrontiert wurden?
Wahrscheinlich, als ein Gast mich bat, seinen Bordeaux mit Eis aufzugießen. Anfangs dachte ich, er wolle die Flasche kühlen, aber ich merkte bald, dass das Eis dazu diente, sein Weinglas zu fühlen.

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