Restaurantkritik 13.März 2024

L'Atelier St-Germain – wo es begann

Saint-Germain, das ›L'Atelier de Joël Robuchon‹, um das es hier geht, befindet sich in Paris Saint-Germain. Das muss betont werden, denn es gibt in der Stadt noch ein weiteres ›Atelier‹, und mit dem, erfahren wir später, möchte man nicht in einen Topf geworfen werden. Aber der Reihe nach: Es ist kaum bekannt, dass die weltweit rund zwanzig Restaurants der Marke »Joël Robuchon« schon lange nicht mehr im Besitz der Familie sind. Joël Robuchon selbst hatte die internationalen Lizenzrechte bereits zu Lebzeiten an einen Pariser Unternehmer abgegeben. Allein die japanischen Lokalitäten und die drei französischen ›Ateliers‹ – zwei in Paris und eines im Übersee-Département Saint-Barth – blieben davon unberührt. So richtig grün scheinen sich deren Betreiber allerdings nicht zu sein, wie später beim kurzen Geplänkel mit dem langjährigen St-Germain-Küchenchef Axel Manes herauszuhören ist.

Beim 2003 eröffneten ›Atelier St-Germain‹ handelte es sich um das erste seiner Art, ein gastronomiehistorisch also nicht unbedeutender Ort. Wir waren erstmals im November 2011 hier, ein denkwürdiges Erlebnis, nicht nur wegen des Essens, sondern auch wegen der glamourösen Klientel: ein paar Plätze weiter speiste Jean Reno (als echte Fanboys posteten wir ein Bild auf Facebook). Der Ruhm ist inzwischen etwas verblasst. Der zweite Stern ging nach Robuchons Tod verloren und beim internationalen »Foodie-Jetset« sind die ›Ateliers‹ längst nicht mehr angesagt. Genau das reizte uns zu einem Wiederbesuch.

Das Restaurant besteht aus zwei quasi »gespiegelten« Barbereichen um eine zentrale Küche, getrennt durch den mittigen Eingangsbereich. Als wir um 21 Uhr eintreffen sind beide Tresen rammelvoll. Mit einem flugs gereichten Glas Champagner gestaltet sich die Wartezeit kurzweilig. Auf der Straße warten Chauffeure mit luxuriösen Limousinen, am Tresen sitzen gut gekleidete Menschen; wir hören englisch, spanisch und überraschend viel französisch. Vor ein paar Tagen, erzählt später unser Kellner, war Jennifer Lopez da (Fashion Week!). Wir sind aber nicht zum Sehen-und-Gesehen-werden hergekommen, sondern zum Essen. Und gerade als wir nach einer Dreiviertelstunde doch etwas ungeduldig werden, brechen zwei Gäste auf.

Die Speisekarte hat sich seit unserem damaligen Besuch kaum verändert; in französischen Spitzenrestaurants ist das nicht ungewöhnlich, und in den »genormten« Robuchon-Restaurants noch weniger. Bemerkenswerter ist, dass die Preise teilweise niedriger sind, als vor dreizehn Jahren: Das Degustationsmenü kostete einst 179 Euro, heute 159. Okay, damals hatte das Restaurant zwei Sterne und stand auf Platz 18 der »World's 50 Best«-Liste.

Da wir bereits einen umfangreichen Lunch am Tresen von Bruno Verjus hinter uns haben (den es ohne die ›Ateliers› womöglich gar nicht gäbe), möchten wir nur ein paar kleinere Gerichte teilen (ab 19 Euro). Unser sympathischer Kellner gibt uns Anregungen zur Speisenauswahl, aber letztlich wissen wir selbst immer am besten, wonach uns der Sinn steht. Wir bestellen vorerst vier Gerichte. Dazu eine Flasche Jura-Chardonnay der Domaine Labet, ein schöner Fund in der Karte (»Les Champs Rouges« 2018, 180 Euro).

Als Einstimmung wird ein Choux-aux-Truffes und ein kleines Schälchen heißer Selleriesuppe über den Tresen gereicht, beides handwerklich makellos und geschmacklich bemerkenswert filigran, beinahe »transparent«, insbesondere das fluffige Gebäck.

Der erste Gang kombiniert Tintenfisch, in schmale Stücke geschnitten, mit gebratenen Artischocken und »iberischen Aromen«, was hier bedeutet: Tomate und Chorizo. Im ersten Moment erinnert der Geschmack der tomatigen Sauce auffallend an verdünntes Tomatenmark, aber wir unterstellen wohlwollend, dass dies aus dem konzentrierten Einkochen einer frischen Tomatensauce herrührt. Zusammen mit dem besonders aromatischen Tintenfisch, den Röstaromen der Artischockenherzen und der deftigen Würze der gerösteten Chorizostücke entwickelt sich ein umkompliziert-süffiges Gericht, das an diesem kalten Wintertag nach Sommer, Sonne und einem Abend am Meer schmeckt.

Ganz ähnlich verhält es sich bei einem Gericht mit Kaisergranat. Zwei kleinere Exemplare des Krustentiers sind – natürlich ausgelöst – mit jeweils einem Basilikumblatt in Strudelteig ausgebacken. Die Produktqualität ist sehr gut, das Handwerk makellos – der Teig ist so hauchdünn, dass man hindurchsehen kann. Die süßliche Saftigkeit der »Langoustines« wird von der Kräuterfrische und der filigranen Knusprigkeit stimmig eingefasst. Ein feinsäuerlich angemachter Friséesalat sowie etwas Kräuterpüree und Krustentiermayonnaise zum Dippen machen dieses Gericht zur Luxusversion eines hitzeflirrenden Strandbuden-Snacks – eine freundlich gemeinte Assoziation, wenn auch nicht ganz frei von Ambivalenz.

Rustikaler wird es beim nächsten Gang. Eine Zubereitung aus Schweinefuß ist dampfend heiß und herrlich herzhaft. Schweinefuß findet man in Deutschland praktisch nirgends auf den Speisekarten, während es sich in Frankreich, Italien und Spanien um eine traditionsreiche Delikatesse handelt. Die hiesige Zubereitung kann man sich – salopp gesagt – wie einen sehr gelatinösen Hackbraten vorstellen. Die leicht klebrige Konsistenz muss man mögen – wir lieben es. Um die Umami-Üppigkeit perfekt zu machen, ist das Fleisch mit tiefbrauner Schweineglace lackiert und ruht auf einer dünnen Scheibe gebackenem Parmesanbaguette. Als Gegenpol fungiert auch hier ein elegant-bitterer Friséesalat. Die lapidare Optik täuscht bei diesem Gericht über den handwerklichen Aufwand hinweg. In seiner entschiedenen Deftigkeit schmeckt das nicht weniger als grandios.

Freude bereitet auch die Stimmung im Restaurant. Am Tresen sitzen vor allem gut gelaunte Paare, die Playlist stimmt und das Ambiente im lackierten 2000er-Chic hat ganz eigenen Charme. Die aufmerksame Servicecrew hinterm Tresen trägt ebenfalls zur Wohlfühlatmosphäre bei – auf seine glänzende Laune angesprochen, lächelt unser Kellner schelmisch: »We want to kill you with our smile...«.

Und weil das alles so viel Spaß macht, schieben wir spontan noch ein Gericht ein: Spaghetti mit Zitronen-Schnittlauchsauce und Kaviar. Hier wird nicht mit hausgemachter Pasta gearbeitet, sondern mit »pasta seca«, was keineswegs ehrenrührig, sondern je nach Sauce sogar angezeigt ist. Der Italiener Antonino Cannavacciuolo macht sogar einen Punkt daraus, in seinem Drei-Sterne-Restaurant ›Villa Crespi‹ »pasta seca« zu verwenden (den Unterschied, obwohl unüberschmeckbar, bemerkt sicher nicht jeder).
Hier in Paris jedenfalls werden die ideal al dente gegarten Nudeln von einer säuerlich-frischen Emulsion eingehüllt, die beim Aufrollen der Spaghetti lustvoll »glitscht«. Der gut dosierte Kaviar bringt eine elegant-jodige, salzige Note ins Spiel, ganz dezent, aber doch entscheidend. Mit Pasta bekommt man mich immer, und diese hier ist bei aller sämigen Süffigkeit zwar keine Götterspeise (wie die Kaviar-Spaghetti im Kopenhagener ›Barabba‹), aber immer noch mehr als sehr gut.

Als Snack vor dem Hauptgang gönnen wir uns eine kleine Portion getrüffeltes Kochenmark, eine dekadente Köstlichkeit, die man sich auf gegrilltes Baguette löffelt und mit den Fingern verspeist. Das Mark ist großzügig mit Rinderjus beträufelt, was der Wirkung eines Turboladers gleichkommt. Nicht zu vergessen der schwarze Trüffel – er ist von exzellenter Qualität und angenehm dünn gehobelt, wodurch er am Gaumen im wahrsten Wortsinn mit dem Ochsenmark verschmilzt. Alles zusammen ergibt eine beinahe überwältigende Üppigkeit. Dazu wird ein säuerlich-scharfer Dip aus grobem Senf gereicht – klassisch und genau richtig. Exzellent.

Inzwischen hat das Restaurant sich deutlich geleert, das fröhliche Gewusel weicht einer gesättigten Gelassenheit. Über den Tresen hinweg kommen wir mit unserem Kellner ins Gespräch, der uns erzählt, dass er aus Italien stammt und bereits seit vielen Jahren im ›Atelier‹ arbeitet, wie auch der Sommelier und einige weitere Kollegen. Nicht nur für Frankreich ist solche Konstanz bemerkenswert. Sie spricht für das Betriebsklima, was wiederum zum positiven Grundrauschen hier im Lokal beitragen dürfte.

Eigentlich sind wir für den Hauptgang mittlerweile zu satt (obwohl wir sämtliche Gerichte geteilt haben), aber was soll man machen, da müssen wir jetzt durch… Wir haben uns für einen Klassiker entschieden, den ich erstmals 2006 im ›Atelier‹ in Las Vegas probiert und seither nie vergessen habe: karamellisierte, mit Gänseleber gefüllte Wachtel und das Kartoffelpüree. Letzteres besteht übrigens nicht, wie oft kolportiert, zur Hälfte aus Butter: auf ein Kilo Kartoffeln kommen »nur« 250 Gramm (und etwas Milch). Das Geheimnis liegt in der flaumigen Beschaffenheit, für die man die Kartoffeln durch ein sehr feines Haarsieb streicht. Wenn es eine Speise gibt, die man in sämtlichen ›Ateliers‹ auf Weltklasse-Niveau beherrscht, dann diese legendäre »Beilage«. Die heutige Filiale bildet keine Ausnahme.

Leider kann man das von der Wachtel nicht behaupten. Brust und Keulen glänzen zwar verführerisch, erweisen sich aber als leicht faserig, trocken und geschmacksarm. Es wirkt, als hätte man den Vogel bereits am frühen Abend zubereitet und dann (zu) lange (zu) warm gehalten. Die Foie-Füllung suchen wir vergeblich, womöglich hat sie sich im Hold-o-mat verflüssigt. Ein irritierender Ausrutscher, doch die Laune ist zu gut, um daraus jetzt noch ein Drama zu machen.

Stattdessen freuen wir uns auf das Dessert, auch dies ein ›Atelier‹-Klassiker: Unter einer feinporig geschäumten Emulsion aus frischer Mango verbirgt sich eine geeiste Kugel wolkenzarter Kokos-Meringue. Die Aromen beider Zutaten sind von beinahe unwirklicher »Klarheit«; ein Hauch frischer Limettenabrieb verstärkt den zauberhaft thailändischen Charakter dieser Süßspeise. Man muss sich davon nicht gleich an einen Palmenstrand versetzt fühlen, aber ein bisschen Sehnsucht wird durchaus geweckt.

Die Petits fours, bestehend aus warmen Madeleines und etwas zu festen Karamellbonbons, sind auf unspektakuläre Weise solide.

Beim Verfassen dieser Zeilen wird in französischen Medien eine Liste der Restaurants publiziert, die im Guide Michelin 2024 ihren Stern verlieren werden – darunter das ›Atelier St-Germain‹. Um es ganz direkt zu sagen: nachvollziehen können wir das nicht, insbesondere mit Blick auf manch andere Sternerestaurants. Es mag sein, dass die Küche in Sachen Kreativität ein wenig eingeschlafen ist und stilistisch etwas altmodisch wirkt, aber genau das machte für uns heute ihren kulinarischen Charme aus. Handwerklich hingegen gab es, von der Wachtel abgesehen, keine Fehler, im Gegenteil. Sämtliche Gerichte waren sorgfältig zubereitet und mehr als wohlschmeckend, stellenweise sogar exzellent. Zu gerne hätten wir uns noch weiter durch die Karte gefuttert.

Sei's drum, es ist nicht unsere Aufgabe, die Guide-Bwertungen zu überprüfen, wir sind auch nicht die Sternepolizei. Innovationen oder Offenbarungen haben wir in St-Germain nicht erwartet, vielmehr waren wir auf eine Enttäuschung eingestellt. Das Gegenteil trat ein. Das Essen war vielleicht nicht »groß«, aber es bereitete große Freude – manchmal braucht es gar nicht mehr als das.

Kai Mihm

Wein

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