Restaurantkritik 17.Dezember 2023

Lú Cocina y Alma – Sherry und Geschichten

Das ist immer ganz wunderbar, wenn eine kulinarische Reise nicht eigens geplant werden muss, sondern wenn ein anderweitig motivierter Trip ganz nebenbei auch die Möglichkeit reizvoller Restaurantbesuche eröffnet. So führt mich eine familiäre Verpflichtung ins andalusische Jerez de la Frontera. Die Stadt ist nicht nur Geburtsort des Sherry, sondern auch Heimstatt zweier Sternerestaurants. Eines davon, das ›LÚ Cocina y Alma‹, kenne ich bereits von einem Besuch im Jahr 2019. Damals konnte mich die Küche nicht recht überzeugen. Genaus deshalb zieht es mich erneut dorthin.

An diesem Mittwochabend ist nicht viel los, außer meinem Tisch sind exakt zwei weitere besetzt. Da sich in der Mitte des Raums ein Küchenblock befindet, sind zuweilen mehr Köche als Gäste anwesend. Der Atmosphäre im fensterlosen Gastraum, den ich bereits letztes Mal seltsam artifiziell fand, ist das nicht zuträglich. Auch dass an der voll ausgestatteten Küchenzeile lediglich angerichtet wird, verstärkt den kulissenhaften Charakter der ganzen Raumsituation. Sei's drum, ich bin auf das Menü gespannt, ein Glas Champagner darf es gerne auch schon sein.

Ein Wort zum Küchenchef. Juanlu Fernández (hier nicht im Bild) hat bei Martin Berasategui gelernt und war bis 2017 Küchenchef im ›Aponiente‹ von Ángel León (ein Drei-Sterne-Restaurant, das ich bestenfalls auf intellektueller Ebene, nicht aber auf der Genussebene interessant fand). Letztes Mal bestand der Ansatz von Fernández noch aus einer Hommage an die französische Haute Cuisine. Diesmal zeigt ein Blick aufs Degustationsmenü (175 Euro), dass es ihm mittlerweile um die kulinarischen Traditionen seiner andalusischen Heimat geht.

Zunächst aber schlägt Fernández noch eine Brücke zu Frankreich. Unter der Überschrift »Elegance - Coquillage - Paris« wird eine typische Austern-Etagere auf den Tisch gestellt, darauf finden sich allerdings keine Austern, sondern drei regionale Muschelsorten mit »französischen« Saucen – alle drei Zubereitungen kennen ich bereits vom letzten Besuch: eine rohe, intensiv nach Meer schmeckende Herzmuschel mit Escabeche-Creme; eine ebenfalls rohe Schwertmuschel mit buttrig-säuerlicher Sauce Grenobloise; und eine rohe Venusmuschel, verborgen unter einem etwas zu dominanten, aber angenehm nachschärfenden Jalapeño-Schaum. Das schmeckt alles sehr gut, wenn auch als Auftakt vielleicht eine Spur zu streng.

Dieser Eindruck wird von drei weiteren Amuses unterstrichen. Eine Emulsion und ein Sorbet von regionaler Conil-Auster, serviert in einer Austernschale, geht in Sachen Austernintensität fast an die Schmerzgrenze. Bei einer Schale mit gegarten Herzmuscheln wird die jodige Wucht von der fruchtigen Säure einer Mignonette-Sauce abgefedert – exzellent. Ein Avocado-Daikon-Röllchen mit Blauer Krabbe und Kaviar spielt ansprechend mit dem Thema »Krabbensalat«, wirkt aber recht mächtig.

Der nächste Abschnitt des Menüs, so erklärt es der Service ausführlich, versteht sich als Hommage an die Welt der Tagelöhner und ihre simplen Speisen. Auf dem Tisch stehen nostalgische Lunchboxen aus Metall, darin Neuinterpretationen typischer Landarbeiter-Snacks, auch diese sind mir teils schon bekannt. Da ist ein fluffig-gedämpftes Brötchen mit geflämmtem Thunfischbauch von hervorragender Qualität; daneben eine Art Taco mit cremiger Tortilla, sowie ein Biskuit mit würzigem Bonito und fruchtiger Paprika. Das ist alles sehr schmackhaft, handwerklich einwandfrei und überraschend filigran, bereitet aber nicht auf das Highlight der Amuses vor…

… nämlich eine Variation des andalusischen Pringá-Eintopfs, bei dem verschiedene Fleischsorten über Stunden hinweg zu buttriger Zartheit geköchelt werden. Hier ist das Fleisch zu einer Art Raviolo geformt, dessen intensives Umami im Mund förmlich explodiert. Hervorragend – auch weil nach dem Reigen kühler Meerestiere etwas warmes und »fleischiges« einfach gut tut.

Der letzte Abschnitt der Amuses referenziert die andalusischen Sherry-Bars, »Tabancos« genannt. Auch dies erläutert der Service ausführlich (es wird überhaupt viel erläutert hier). Auf einem typisch-rustikalen Tabanco-Holzbrettchen sind vier Snacks aufgereiht. Ein Stückchen gepökelter Schweinebauch mit Zitronenemulsion auf kross frittierter Schwarte spielt elegant mit fleischigen und zitrusfrischen Aromen. Ein Scheibchen gepökelter Thunfisch geht mit einer knusprig-cremigen Käsekrokette eine überraschend stimmige Liaison ein; etwas zu süß fallen dünn geschnittene, mit Karottensalat gefüllte Karottenscheiben aus. Dafür gefällt die »Hauspastete« in einem hauchdünnen Knusperring mit Sherry-Gelee durch Filigranität und subtile Würze. Dazu wird ein kleines Glas Amontillado serviert.

Apropos Sherry: uns reizt angesichts des Ortes die »regionale« Weinbegleitung (95 Euro) da sie verschiedenste Sherrys umfasst. Nur soviel: Was spannend klingt, wird sich auf Dauer als eher anstrengend erweisen, auch für den Magen.

Weiter im Menü: Nach den sage und schreibe vierzehn Kleinigkeiten kommt das erste Tellergericht auf den Tisch. Schmale Tranchen kalt geräucherter und anschließend in Olivenöl gereifter Makrele sind in einer Sauce aus fermentiertem Gemüse (Tomate, Paprika, Zwiebel) angerichtet, eine flüssige Variante des andalusischen Gemüsesalats Piriñaca. Durch die Fermentation erhält die Sauce eine delikate Säuerlichkeit, die den fettreichen, herzhaften und durch die Reifung angenehm festfleischigen Fisch bestens komplimentiert. Abgerundet wird das Ganze durch ein paar sonnengetrocknete, vor Fruchtigkeit und Umami nur so strotzende Kirschtomaten, sowie einige Radieschenscheiben. Sehr schön.

Es geht weiter mit einem Stück gedämpftem Merlan, ein Fisch mit zartem, perlmuttartigem Fleisch und intensiven Meeresgeschmack. Juanlu Fernandez verfeinert hier den spanischen Eintopf-Klassiker »Pescadilla en amarillo«, bei dem Fisch mit Kartoffeln, Safran und Erbsen geschmort wird. Hier nun sitzt die kompakte Tranche in einer exzellenten Safran-Sherry-Sauce, die mit dem Kollagen des Fischs gebunden wurde. Darin finden sich zart knackende Bohnenkerne. Ein hauchdünnes »Kartoffelpapier« steuert filigrane Knusprigkeit bei. Alles ist sehr fein austariert und von außerordentlicher Delicatesse – ein großartiges Beispiel dafür, wie man uralte Traditionsrezepte in die avancierte Küche überführen kann.

Beim nächsten Gang handelt sich ebenfalls um die Interpretation eines Klassikers: Picadillo, eine traditionelle Suppe aus Huhn und Schinkenknochen, wird in Andalusien gerne mit gehacktem Ei zu Weihnachten serviert. Juanlu Fernández bereitet die Suppe eher »französisch« zu, heißt: unter Einsatz von Sahne und Butter. In der Mitte der heißen, herzhaften Cremigkeit platziert er ein neunzig Tage gepökeltes Eigelb, dessen Textur an einen hauchzarten Flan erinnert. Zudem verfeinert er das Gericht mit einer dünnen Scheibe würzigem Montesano-Schinken (verborgen am Tellerboden) sowie einigen Tropfen von achtzig Jahre altem Oloroso-Sherry, dessen oxidative Noten nochmal eine ganz andere Tür öffnen. Die aromatische Dichte und Komplexität dieses so schlicht anmutenden Tellers ist atemberaubend. Ein Highlight.

Eine kleiner déjà-vu-Effekt stellt sich beim Servieren des folgenden Gerichts ein, denn es erinnert in Farbgebung und Anrichteweise an den Merlan: eine Tranche Atlantik-Wolfsbarsch sitzt in einer cremigen gelben Sauce und wird von etwas krossen getoppt. Das Thema ist diesmal »frittierter Fisch«, wie man ihn aus den andalusischen Strandbars kennt. Hier nun wurde der Barsch sanft gedämpft und anschließend nur auf der Hautseite mit Sauerteig frittiert. Eine schöne Idee. Der knusprig »überbebackene« Fisch schmeckt sehr gut, nur bekommt das Gericht durch die sehr intensive, »fischige« Sauce (erneut mit Fischkollagen gebunden) eine Wucht, die mir an dieser Stelle im Menü schlichtweg zu viel ist.

Der erste Fleischgang des Abends wird in einer Art Pommes-Frites-Schale aus Porzellan serviert: Kleine Stücke Lamm-Bries (aus der Sierra de Cádiz) sind leider viel zu stark frittiert und bestehen dadurch praktisch nur aus dunkelbrauner Kruste. Womöglich ist das intendiert, überzeugend ist es nicht. Algensalat und kleine, sehr bissfeste Bohnenstücke frischen das Ganze etwas auf, auch ein buttriger Bratjus schmeckt sehr gut, doch der Hauptdarsteller, die Bries-Stücke, sind einfach viel zu trocken.

Vor dem Servieren wird der Hauptdarsteller des Hauptgangs am Tisch präsentiert: eine in der Kokotte gegarte Wachtel von stattlicher Größe.

Erst beim Servieren zeigt sich, dass der Vogel mit einer dampfenden, saftigen Mischung aus Innereien, Keulenfleisch und Gemüse gefüllt ist – am Tisch breitet sich ein wunderbarer Duft aus. Das Fleisch der Wachtel ist außerordentlich kraftvoll und so zart, dass man es praktisch mit der Gabel zerteilen kann; sogar die weiche Haut schmeckt aufgrund der behutsamen Garung äußerst delikat. Die intensiv-aromatische Füllung verleiht dem Gericht einen winterlichen Charakter, am Tisch wird noch eine mustergültige Sauce angegossen, wunderbar. In diesem Gang zeigt sich deutlich die Frankophilie des Küchenchefs. Dazu passt auch die Beilage, ein Baba, der allerdings nicht mit Rum getränkt ist, sondern mit reduziertem Bratensaft. Die Textur erinnert dadurch an einen tropfnassen Schwamm, das muss man mögen, mir schmeckt es unglaublich gut. Mein Sättigungsgrad ist inzwischen allerdings erheblich.

Da kommt das erste Dessert genau richtig, denn es kombiniert erfrischende Zitrusfrüchte und Wodka. Auf dem Teller finden sich diverse Zitrustexturen, so etwa Tupfer von Kumquatpüree, Passionsfruchtgelee und Grapefruitgelee; vor allem aber ist da eine Nocke andalusisches Bitterorangeneis von großartiger Qualität: intensiv süß, kräftig-bitter, dabei fruchtig und erfrischend. Fruchtig-herbes Olivenöl (natürlich aus Andalusien) und eine Sauce aus Wodka und Mandarine verleihen diesem exzellenten Dessert den letzten Schliff.
Apropos letzte: Mittlerweile sind wir die einzigen verbliebenen Gäste.

Das abschließende Dessert variiert den französischen Patisserie-Klassiker Mont Blanc – doch anstelle des französischen Berges referenziert man hier die nahe gelegene Sierra de Grazalema: das Baiser des Originals wird durch Ziegenkäse-Eis von der Payoya-Ziege ersetzt, die Kastaniencreme durch Pinienkerne in verschiedenen Texturen; regionaler Honig und zerkrümeltes Kiefernbaiser (als »Schnee«) kontrastieren die herbe Note des Ziegenkäse-Sorbets. Das ist alles raffiniert und unkompliziert zugleich. Exzellent.

Für die Petits fours ist nach diesem ausufernden Menü leider kein Platz mehr. Angesichts der bevorstehenden Heimfahrt verzichte ich auch darauf, sie mir einpacken zu lassen.

Mit dem Fokus auf spanische Traditionen und andalusische Rezepturen wirkt die Küche im ›LÚ Cocina y Alma‹ gleich viel persönlicher – und schmackhafter. Das »Französische« zeigt sich durchaus immer noch, allerdings vor allem in der Handwerklichkeit und im Einsatz von Butter, Saucen und exzellenten Fonds. Dass der viele Sherry in der Weinbegleitung mir am Ende fast ein Loch in den Magen gebrannt hat, mag mangelnder Übung geschuldet sein. Auch die Atmosphäre im Restaurant ist immer noch etwas »speziell«, und das viele »Storytelling« zum Menü wirkt auf Dauer etwas forciert, aber sei's drum, Andalusien ist eine Region mit reicher Historie. Ob das alles für einen dritten Besuch genügt? Nächstes Jahr kann ich es sagen.

Kai Mihm

Wein

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