Restaurantkritik 31.Januar 2024

Genussgeschichten

Wen wir in Nürnberg sind, gibt es für den Mittag unserer Abreise traditionell ein festes Ziel: das ›Essigbrätlein‹. Ein Trip nach Nürnberg ohne einen Besuch dort ist zwar denkbar, aber sinnlos. Zusammen mit dem ›Sonnora‹ und dem ›Le Moissonnier‹ (beide ebenfalls inhabergeführt!) und vielleicht zwei, drei weiteren gehört es zu jenen Restaurants in Deutschland, denen ein fester Platz in unseren Herzen gehört. Mit Sentimentalität hat das nichts zu tun, sondern mit Vorstellungen von Küche und Gastfreundschaft, die bei allen Unterschieden ganz auf unserer Linie liegen.

Da sind wir also wieder, Freitagmittag um Punkt 12 Uhr. Als festes Nürnberg-Ritual ist das ein bisschen wie Nachhausekommen. Diesmal dürfen wir an einer Art Chef's Table direkt neben der Küche Platz nehmen. Wir sind die ersten Gäste, doch bald werden sämtliche Tische besetzt sein. Die Atmosphäre ist wie immer unprätentiös elegant und von jener behaglichen Entspanntheit, die sich nur dann einstellen kann, wenn ein Team ganz bei sich ist.

Doch vorerst genug geschwärmt, ein kleiner Wermutstropfen bleibt immer, nämlich dass mittags konsequent nur das Fünf-Gänge-Menü (145 €) geschickt wird; enttäuscht wurden wir dabei gleichwohl noch nie. Auf der Weinseite hat der unvergleichliche Ivan Jakir wie immer eine Empfehlung jenseits aller Etikettentrinkerei parat, nämlich einen bombigen Silvaner von Rudolf May (»Der Schäfer« 2021, 85 €).

Zum Champagner (Billecart-Salmon »Blanc de Blancs« Grand Cru) gibt es das erste Amuse. Es lässt sich als stets variierter Klassiker bezeichnen: In einem kleinen Tiegel steckt kopfüber ein kleines Stück Kopfsalatherz, diesmal gefüllt mit winzigen, roh marinierten Blumenkohlscheiben (»vom allerletzten Blumenkohl der Saison«, so Andree Köthe beim Servieren). Der Salat ist mit Pulver aus fermentierter Zitrone gewürzt und steckt in einer Vinaigrette mit Öl von gegrilltem Blumenkohl. Einmal leicht tunken und dann in ein, zwei Bissen verspeisen. Wir kennen diesen Küchengruß, doch der Effekt ist immer wieder erstaunlich: die unerhörte Frische und Saftigkeit, die elegante Säure und die Vollmundigkeit – es ist, als hätte man nie zuvor Salat gegessen. Das ist so vermeintlich simpel, und nicht weniger als Weltklasse.

Es geht weiter mit einer Petitesse im wahrsten Wortsinn. Auf einem kleinen Dreizack ist ein winziges Stück Wassermelonenschale aufgespießt, genauer: die weisse Schicht der Wassermelone, süß-sauer eingelegt und anschließend leicht angetrocknet. Serviert wird sie mit in Salz eingelegten Fenchelblüten. Am Gaumen entaftet sich ein ganzer Strauß floraler Aromen, süßlich, salzig und ganz leicht bitter. Dem Begriff "Amuse bouche" wird die filigrane Kleinigkeit im besten Sinne gerecht: sie erstaunt den Gaumen und weckt kulinarische Entdeckungslust, ohne eine Sättigung vorwegzunehmen.

Der dritte Küchengruß besteht aus Rote Bete, die gekocht, in hauchdünne Scheiben geschnitten, getrocknet und in Rote Bete Saft rehydriert wurde, was ihre eine festere Textur und konzentrierten Geschmack verleiht. Serviert wird die kleine, aufgerollte Scheibe an einem Dreizack-Spieß mit einer Vinaigrette aus Liebstöckel und Sellerieblättern. Im allerersten Moment wirkt das etwas spröde, doch dann kommt es wieder, das Spiel aus erdiger Süße, Umami und herbwürzigen Noten – vertraut und doch völlig anders. Das Erstaunliche an der Küche hier ist nicht zuletzt, welche Überraschungen Yves Ollech und Andree Köthe aus altbekannten Produkten herausholen.

Das gilt auch für den ersten Gang des Menüs, der Kartoffel und Birne kombiniert. Gedämpfe Birne ist kreisrund angerichtet und mit süßsauer eingelegten, hauchdünnen Kartoffelscheiben belegt. Obenauf kleine Tupfen Birnen-Schnittlauchcreme, Lavendelspitzen und in Salz eingelegte Kamillenblüten. Beim ersten Bissen nimmt man vor allem die sehr saftige, unerwartet weiche Birne wahr. Sehr schnell aber wird die cremige Fruchtsüße vom Biss der Kartoffelscheiben und der Kräuterwürze aufgefangen. Im nächsten Moment nimmt man plötzlich kleine Kartoffelstifte wahr, die mit Rahm und Schnittlauchsaft gekocht wurden und sich unter der Birne in einer Sauce aus Lavendelmolke finden. Alles zusammen schmeckt anders, ganz anders, als alles, was man je mit Kartoffel oder Birne gegessen hat. Was forciert experimentell wirken könnte, schmeckt hier nach souveräner Kreativität.

Der nächste Gang rankt um das Thema Bohnen. Gekochte und geschmorte Bohnen, zart und trotzdem mit Biss, sitzen in einer appetitanregend-säuerlichen Bohnensaftvinaigrette. Sie sind mit hauchfeinen Scheiben von eingelegtem Fenchel belegt, mildwürziger Schabzigerklee erweitert das Aromenspektrum, ohne es zu sprengen. Den Clou bildet allerdings eine Creme aus dem Trester der entsafteten Bohnen: mit Essig und eingelegtem Thai-Basilikum abgeschmeckt, verwandelt sich hier ein »Abfallprodukt« in eine seidige Delikatesse. Das Thema Bohne wird hier faszinierend durchdekliniert und mit wenigen zusätzlichen Aromaten süffig ausgeweitet. Herausragend.

Schrieb ich gerade »süffig«? Nun, dieser der Weinsprache entlehnte Begriff gilt erst recht für den folgenden Gang. Gebratene Pfifferlinge sind mit fermentiertem Rettich (Biss!) auf einer Creme aus gerösteter Hefe angerichtet, die den ungeheuer puren Geschmack der Pilze noch etwas vollmundiger macht – fast surreal intensiv nach nussigen Pfifferlingen und feucht-duftendem Waldboden. Ein leichter Pilzsaft mit einigen Tropfen Anisöl machen diese Göttersepise noch, ja: »süffiger«.

Wie wenig es dieser Küche um Instagram-Teller geht zeigt die Tatsache, dass man die kleinen Pfifferlinge gar nicht sieht, weil sie unter transluzenten Rettichscheiben nur zu erahnen sind. Visuell macht das nicht viel her, dafür bereichert es das Mundgefühl. Und falls es nicht aufgefallen sein sollte: hauchdünne Gemüsescheiben als Belag sind ein Leitmotiv des bisher grandiosen Menüs. 

Im Gegensatz zum Menü erweist sich die zweite Weinflasche, ein Meursault »Genevrières« 2011 von François Mikulski, als enttäuschend flach. Ein Glas Ridge zum Hauptgang (»Geyserville« 2017) wird es richten.

Und erst als der Hauptgang vor uns steht, fällt uns auf, dass das bisherige Menü nahezu vollständig ohne tierische Produkte auskam. Jetzt gibt es Lamm, aber nicht etwa Filet oder Keule, sonder Hüfte, auch dies ein Cut, den wir vom ›Essigbrätlein‹ kennen. Das Fleisch wurde zunächst zu buttriger Zartheit gegart und anschließend leicht gegrillt – man beachte den appetitlich knusprigen Fettrand. Auf dem fabelhaften Fleisch finden sich crunchige Stücke eingelegter Staudensellerie sowie unerhört kross-getrocknete, gesalzene Knollensellerieblätter.
Die Intensität von Fleisch und Gemüse ist beinahe überwältigend. Gekontert wird sie von einer fruchtigen Karotten-Joghurtsauce sowie einer Creme aus fermentiertem Fenchel und fermentierten Äpfeln. Es sei angemerkt, dass diese Creme nicht –wie meist üblich– die unangenehme Textur einer überfeinerten Gesichtscreme hat, sondern etwas rauer gehalten ist – ein ganz entscheidender Unterschied. Kurz: auch dieser Gang ist mehr als herausragend.

Das Dessert überrascht insofern, als es sich um die Variation einer Vorspeise aus dem Jahr 2020 handelt: Getrocknete Gurke und Duftreis sind diesmal nicht herzhaft eingefasst, sondern süß. Die dehydrierte, in mundgerechte Stück zerteilte Gurke liegt auf cremigem, mit Zitronenverveine abgeschmecktem Reis und bekommt in diesem Kontext den Charakter eines sehr zarten Fruchtgummis. Ein sattgrün-duftiger Fond aus Apfel, Zitrone und Basilikum sowie eine große Kugel herausragendes, leuchtend grünes Kapuzinerkresseeis, passen ganz vorzüglich dazu. In würziger Variante gefiel uns das Ganze zwar besser, aber sehr stark bleibt es allemal.

Die fünf Gänge waren am Ende doch so sättigend, dass ich mir die klassischen ›Essigbrätlein‹-Schokoladentäfelchen für späteren Genuss einpacken lasse. Sie sind, auch das muss mal gesagt werden, von außerordentlicher Qualität und weit mehr, als nur ein Nachgedanke zum Kaffee.

Dass es sich beim ›Essigbrätlein‹ um einen besonderen Ort handelt, ist längst eine Binsenweisheit. Wie hier größter, wirklich: größter Genuss aus einer Beschränkung auf weitestgehend regionale Produkte, »einfache« Gemüsesorten und »unluxuriöse« Zutaten gewonnen wird, sucht nicht nur in Deutschland seinesgleichen. Eine gewisse Bereitschaft und Erfahrung seitens des Gastes gehört zweifellos dazu, das ›Essigbrätlein‹ ist nicht unbedingt ein Ort für kulinarische Anfänger. Doch wenn das heutige Menü nicht höchsten Ansprüchen genügte, wissen wir auch nicht weiter.

Manche Vertreter der jüngeren Köchegeneration scheinen beim regionalen Ansatz eine Art Zwang zur Kargheit zu sehen – man möchte sie alle hierher schicken, denn Andree Köthe und Yves Ollech zeigen jedes Mal aufs Neue, dass eine Regionalphilosophie keineswegs üppigen Genuss und komplexe Kreationen ausschließt – warum sollte sie auch?

Und von einer »Philosophie« kann man hier in Nürnberg guten Gewissens sprechen. Insbesondere wenn Andree Köthe manchmal selbst serviert und mit lebhafter Ruhe von seinen Ackergängen und zarten Gemüsekeimlingen schwärmt, wird klar, wie sehr die Küche den Ansatz von Naturnähe, Ganzheitlichkeit und Saisonalität wirklich lebt. Es wird einem auch nicht zu viel erklärt, gerade deshalb hört man so gerne zu. Es geht im ›Essigbrätlein‹ nicht um »Storytelling« – hier wird eine kulinarische Geschichte geschrieben.

Kai Mihm

Wein

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